Sumo-Ringer Aonishiki: Wie ein Ukrainer eine japanische Tradition aufmischt

Der Mann mit den ungewöhnlich blonden Haaren, traditionell zusammengebunden in der Form einer Gingkopflanze, hat keine Angst vor großen Worten: „Ich will ein Top-Sumoringer werden“, sagt er verschmitzt lächelnd. Das sei sein allergrößter Traum. Und hier in Japan fühle er sich schon wohl und auf dem richtigen Weg. „Ich will meinen ganz eigenen Stil als Ringer entwickeln und eines Tages ein Yokozuna sein. Dafür kämpfe ich!“ Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Yokozuna ist der höchste Rang im zwei Jahrtausende alten japanischen Ringsport Sumo, der seit dem 18. Jahrhundert auch als Wettkampfsport organisiert ist. Und der Mann, der diesen großen Traum äußert, irgendwann mal die Großmeister-Ebene zu erreichen, ist seit Kurzem als Aonishiki bekannt. Nun könnte man sagen, es ist nichts Besonderes, dass ein ambitionierter Ringer in Gedanken schwelgt, irgendwie irgendwann der Allerbeste zu werden. Doch im Fall von Aonishiki, der dieses Statement Ende vergangenen Jahres in einem TV-Interview gab, wird seit Kurzem niemand in Japan mehr den Kopf schütteln. Einige Kenner jubeln sogar schon fast. Im ersten Turnier schafft er fast die Sensation Als Aonishiki Ende März bei einem der jährlich sechs großen Turniere in der Riege der schwersten Athleten der Welt seinen Einstand gab, hätte er mit elf Siegen und vier Niederlagen beinahe den Gesamtsieg davongetragen. „Der junge Aonishiki gab ein beeindruckendes Debüt in der Elite-Makuuchi-Division“, schrieb die Nachrichtenagentur Kyodo: „Aonishiki, der während des Turniers 21 Jahre alt wurde, kam dem Erfolg von Takerufuji nahe, der im März 2024 als erster Ringer seit 110 Jahren bei seinem Debüt in der höchsten Liga einen Meistertitel gewann.“ Unglaublich also. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Gewinnen konnte Aonishiki sein erstes Turnier zwar nicht ganz. Doch sein Traum davon, eines Tages zum Yokozuna ernannt zu werden, sieht nicht mehr nach Träumerei aus. Und die Geschichte hinter dem bis vor Kurzem noch unbekannten Namen Aonishiki birgt den Stoff, aus dem in der Sportwelt Legenden gestrickt werden. Denn Aonishikis bürgerlicher Name lautet Danylo Yavhusishyn. Seine ukrainische Heimat verließ er Anfang 2022, nach dem russischen Überfall. Zunächst zog es den jungen Mann nach Deutschland. Aber dieser wuchtige Typ – 1,82 Meter groß, 136 Kilogramm schwer – wollte eigentlich nach Japan. Als Junge hatte Yavhusishyn die Techniken des Judos und Sumos geübt, auf einem internationalen Jugendturnier einen Japaner kennengelernt. Als der Ukrainer inmitten des Angriffs Russlands seinen Jugendfreund in Ostasien kontaktierte, schlug der vor, Yavhusishyn solle doch nach Japan kommen und bei ihm übernachten. In Japan kennt ihn schon fast jeder: Aonishiki posiert mit Fans. Quelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS Der Ukrainer schlug ein, machte sich von Deutschland nach Ostasien auf, stellte sich bei Sumoställen in Tokio vor. Der Rest ist mittlerweile in ganz Japan bekannt. Der Sumostall, der ihn aufnahm, taufte Yavhusishyn auf Aonishiki: Die dazugehörigen Schriftzeichen beinhalten Verweise auf die ukrainische Flagge, Ruhe und seinen Stall, in dem er nun lebt und trainiert. Dabei scheint das Schriftzeichen für Ruhe besonders wichtig. Denn der Ringer beherrscht eine in Japan sehr geschätzte Eigenschaft perfekt: Zurückhaltung. „Bis hierher ist alles natürlich sehr schnell gegangen“, sagte der Ukrainer kürzlich in einem seiner häufiger werdenden Interviews. „Aber ich sehe es eher so, dass es gerade erst losgeht. Ich bin noch nicht da, wo ich gern wäre. Mir mangelt es noch an so vielen Dingen!“ Er müsse noch kräftiger werden. „Aber mental bin ich schon viel stärker geworden. Und das ist ja schon mal wichtig.“ Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Sumo internationalisiert sich – nach mehr als 2000 Jahren Geschichte Was in Japan zudem für Begeisterung sorgt: Aonishiki spricht schon fließend Japanisch. So schnell gelingt das nicht vielen Ringern aus dem Ausland – wobei sich diese traditionellste aller Sportarten Japans seit zwei Jahrzehnten internationalisiert. Viele der besten Ringer kommen seit Jahren aus der Mongolei. Auch einen Ägypter gab es schon, ebenso wie einige Europäer. Mit Serhii Sokolovykyi – Ringname Shishi – gibt es seit 2020 auch schon einen Ukrainer im Ring. Gerade auf diese beiden Ukrainer ist man nicht nur in deren osteuropäischer Heimat stolz, sondern auch im aufnehmenden Land – sogar von Staats wegen. Anfang des Jahres publizierte die japanische Regierung auf ihrer Website einen Artikel in englischer Sprache, mit dem Titel: „Ukrainischer Sumoringer in Aktion: Die Stärke zweier Familien in der Ukraine und in Japan.“ Die Botschaft: Japan ist eine Gesellschaft, die Fremde aufnimmt und integriert. Im ostasiatischen Land – das über Jahrzehnte eher eines gewesen ist, das praktisch keine Flüchtlinge aufnahm – will man sich jetzt so sehen. In Reaktion auf Russlands Angriff auf die Ukraine wurden nämlich Tausende Menschen aus dem Land auf unbürokratische Weise aufgenommen. So auch Aonishiki. Die Kämpfe dauern meist nur wenige Sekunden: Aonishiki (Mitte) versucht seinen Kontrahenten Sadanoumi vor den wachsamen Augen des Kampfrichters aus dem Ring zu drängen. Quelle: IMAGO/AFLOSPORT Das ist mit Blick auf die Geschichte des Sumos umso bemerkenswerter. Als Produkt der japanischen Urreligion Shinto wurde der Ringsport, bei dem man den Gegner in den meist nur wenige Sekunden dauernden Kämpfen entweder von dessen Füßen oder aus dem Ring drängen will, gar zum Teil des Hofzeremoniells und genießt bis heute eine quasi-religiöse Bedeutung: Eltern junger Kinder freuen sich, wenn erfolgreiche Ringer am Rande von Turnieren die Heranwachsenden auf den Arm nehmen. Das soll Reinheit bringen und Glück spenden. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Entsprechend sind die stärksten Ringer auch beliebte Figuren in der Werbung und im Showgeschäft. Vor allem die Yokozunas sind Stars mit Popularität, die weit über den Sport hinausreicht. Um den höchsten Rang zu erlangen, muss ein Ringer in der Regel zweimal hintereinander eines der sechs jährlich ausgetragenen nationalen Turniere gewinnen. Dann kann ein Gremium des Sumoverbands einen Vorschlag machen. Die Kehrseite: Wer den Status des Yokozunas erreicht hat, verdient nicht nur mehr Geld und Anerkennung, sondern steht auch unter immensem Druck. Skandale um Alkoholmissbrauch und unfaires Verhalten führten schon zu Rücktritten der Superstars. Auch, wer mehrmals hintereinander nicht gewinnt, wird aus der Szene zum Abtritt gedrängt. Verlierer gelten des erhabenen Ranges als nicht mehr würdig. Traumziel Yokozuna: Geld, Anerkennung - und immenser Druck Wie groß der soziale Druck ist, der auf einem Yokozuna lastet, erklärte der damals 36-jährige Hakuho – der historisch dominanteste Yokozuna aller Zeiten – rund um seinen Rücktritt im Jahr 2021: „Ich bin voll von Erleichterung“, gab er zu, nachdem er in Nagoya sein letztes Turnier gewonnen hatte. Während seiner 20 Karrierejahre, von denen er 14 Jahre Yokozuna war, hatte der gebürtige Mongole 45 Turniere gewonnen – 13 mehr als der vor Hakuho zuvor historisch stärkste Ringer Taiho, der 1971 zurückgetreten war. Käme er aus Syrien, Gaza oder Südostasien, hätte er hier als Flüchtling keine Chance erhalten. Insgesamt ist Japan weiterhin verschlossen gegenüber Flüchtlingen. Koichi Nakano, Politikprofessor in Tokio, über Aonishikis Sonderrolle als Ukrainer Hakuho erklärte zu seinem Rücktritt, dass er inmitten wiederholter Knieoperationen eigentlich früher aufhören, aber zuvor noch die rund um die Corona-Pandemie kontrovers aufgenommenen Olympischen Spiele von Tokio 2021 abwarten wollte, um nicht zum falschen Zeitpunkt allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Denn wenn ein Yokozuna zurücktritt, spricht ganz Japan darüber. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Wobei Sumo seit Jahrzehnten gegen schwindendes Interesse unter jüngeren Leuten ankämpft. Nach Empörungen um illegale Wetten, Drogenkonsum und Gewalt in einigen Ställen, wo die Ringer jeweils gemeinsam leben und trainieren, hat das Ansehen des um Fairness und Respekt bedachten Sports zusehends nachgelassen. Zudem sind die Stars im Baseball und vor allem Fußball für den Nachwuchs von heute die deutlich attraktiveren Vorbilder. Er war der erste Nicht-Japaner, der den Rang eines Yokozunas erreichte: Chadwick Haheo Rowan, genannt Akebono, aus Hawaii. Quelle: IMAGO/Kyodo News Auch deshalb sucht der Sumoverband nach neuen Aushängeschildern für den Sport. Und die können durchaus im Ausland gefunden werden. Wie im Fall von Danylo Yavhusishyn, genannt Aonishiki. Koichi Nakano, Politikprofessor an der Sophia Universität in Tokio, findet aber nicht, dass Aonishiki schon als Sinnbild für eine generelle Öffnung stehen kann: „Die Internationalisierung im Sumo ist schon länger ein Trend. Denn es gibt nicht mehr genügend Japaner, die Sumoringer werden wollen.“ Inmitten fallender Geburtenraten und der zunehmenden Beliebtheit von Baseball und Fußball mangelt es Sumo seit Jahren an Nachwuchs. „Daher ist man für Talente aus dem Ausland heute offener.“ Und der Hintergrund Aonishikis als Flüchtling? Nakano winkt ab: „Das liegt daran, dass er aus der Ukraine ist! Käme er aus Syrien, Gaza oder Südostasien, hätte er hier als Flüchtling keine Chance erhalten. Insgesamt ist Japan weiterhin verschlossen gegenüber Flüchtlingen.“ Die zuletzt unbürokratische Aufnahme Geflüchteter aus der Ukraine, bei der auch Universitäten rasch Studierendenvisa ermöglichten, sei eher als eine Art sicherheitspolitische Kooperation mit westlichen Staaten zu verstehen. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Für die Sumowelt sei Aonishiki indes ein Glücksgriff, der sich erst durch den Krieg in der Ukraine ergab. „Aber für seine Entwicklung wird sich der Sport weiter internationalisieren müssen“, so Nakano. Sollte Aonishiki eines Tages durch viele Turniersiege zum Yokozuna ernannt werden, könnte er eine entscheidende Rolle dabei spielen, den Sport – und damit auch das Land – etwas weiter zu öffnen. Der erste ausländische Yokozuna wäre er zwar nicht mehr, das war 1993 der auf Hawaii geborene US-Amerikaner Chadwick Haheo Rowan, aka Akebono. Wohl würde Aonishiki aber der erste Großmeister, der aus Europa käme.