Gemeinschaft steht uns gut: die Menschenbilder des Fotografen Guy Bolongaro

3. April 2025 · Guy Bolongaro war Sozialarbeiter in England. Nach einem Burnout wurde er Fotograf. Geblieben ist sein großes Interesse und Verständnis für Menschen, Gruppen, Familien und Beziehungen. Frankfurter Allgemeine Quarterly: Sie haben ein Buch über das Thema Familie veröffentlicht. Es trägt den Titel: „Die Schwerkraft beginnt zu Hause“. In dem Sinne, dass uns unsere Familien herunterziehen? Guy Bolongaro: Ja und nein. Die Familie empfinde ich als eine zutiefst problematische Institution. Dass wir an diesem Modell festhalten und es sogar verehren, obwohl es historisch gesehen so oft dysfunktional war, trägt bei zu unserer Vereinsamung und der zunehmenden Schwierigkeit, Gemeinschaften aufzubauen. Gleichzeitig war mein Buch ein Ausdruck der Dankbarkeit dafür, dass wir die Bedingungen hatten, unter denen die Kernfamilie – gerade so – für uns funktionieren konnte. FAQ: Was genau meinen Sie damit, dass die Familie an sich eine problematische Institution ist? Bolongaro: Ich habe eine äußerst ambivalente Beziehung dazu. Einerseits bin ich tief dankbar, dass wir Bedingungen haben, unter denen sie funktionieren kann. Andererseits sehe ich, dass sie als Modell nie wirklich funktioniert hat. Man könnte argumentieren, dass Freud die Psychoanalyse nur entwickelt hat, um Individuen das Überleben in der bürgerlichen Familie zu ermöglichen. Mich beschäftigt die Frage, wie sich Gruppen zu einer progressiven Gemeinschaft formen und nachhaltig bestehen können. FAQ: Haben Sie darauf schon eine Antwort gefunden? Bolongaro: Kurz gesagt: nein. Seitdem meine Familie und ich London verlassen haben, kämpfen wir in unserer neuen Umgebung sogar damit, auch nur ansatzweise das Gemeinschaftsgefühl wieder aufzubauen, das wir dort hatten – und selbst das drehte sich fast ausschließlich um die Schulen unserer Kinder. Aber mein Bedürfnis nach Gemeinschaft war noch nie so stark. FAQ: Wie stillen Sie dieses Bedürfnis? Bolongaro: Es erfordert enorme Energie und Engagement, auch nur eine Version davon unter den aktuellen Bedingungen zu erschaffen. Bestenfalls können wir Hinweise in lokalen Initiativen finden und dann zurückblicken auf die Experimente der 1970er Jahre, als – insbesondere unter dem Einfluss feministischer Theorien – kreativer darüber nachgedacht wurde, wie wir anders in Familien und Gemeinschaften leben könnten. Diese Debatte sollte heute viel zentraler sein. FAQ: Diese Experimente waren selten erfolgreich, oder? Bolongaro: Das stimmt. Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, lautet deshalb: Sind diese Experimente gescheitert, weil wir den tief in uns verankerten kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen – etwa: Transaktionsdenken – nicht entkommen können? Oder haben sich die allgemeinen Bedingungen zunehmend gegen solche Möglichkeiten entwickelt? FAQ: Und? Bolongaro: Beides, natürlich. Die Bedingungen sind heute noch schwieriger, aber wir sollten klüger sein und diese Ideen mit aktualisierten Lösungen neu aufgreifen. Es gibt sie ja. Ich neige zu vorsichtigem Optimismus, wenn ich Beispiele für Kooperativen, kollektive Organisationen oder gemeinschaftliche Wohlstandsschaffung sehe, die mit partizipativer Demokratie wie Bürgerversammlungen kombiniert werden. Sie sind leider zu selten, zu fragil oder nicht skalierbar. Es ist schwierig, aber ich versuche, mich an die Idee des italienischen Philosophen Antonio Gramsci zu halten: „Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens.“ FAQ: Sie waren als Sozialarbeiter tätig und sind jetzt Modefotograf. Sehen Sie eine Verbindung zwischen diesen unterschiedlichen Berufen? Bolongaro: Als ich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Sozialarbeit tätig sein konnte, habe ich zunächst aus kreativem Antrieb zur Fotografie gefunden. Sie wurde eine Art Therapie für mich – sie half mir, gesündere Denk- und Handlungsmuster zu entwickeln. Ich merkte schnell, dass ich mit Fotografie Bilder erschaffen konnte, die mich begeisterten, das nutze ich jetzt in diesem Kontext. FAQ: Haben Sie dabei nach speziellen Motiven gesucht? Bolongaro: Nein, ich bin einfach ziellos umhergelaufen, habe den Kopf ausgeschaltet und mit der Kamera reagiert – das hat mir wirklich geholfen, wieder gesund zu werden. Diese Herangehensweise begleitet mich bis heute. Ich mache keinen Unterschied zwischen Modefotografie und anderen Bereichen – ich liebe es einfach, Bilder zu erschaffen, wann immer ich dazu eingeladen werde! Aber die Arbeit in der Mode bietet die Möglichkeit zu experimentieren, frische und lebendige Bilder mit kreativen Menschen zu gestalten. Das ist mir gerade jetzt sehr wichtig, da ich so viel Zeit allein mit dem Bearbeiten von Bildern verbringe. Ich freue mich über den kollaborativen Aspekt dieser Branche und schätze ihn sehr. FAQ: Erzählen Sie uns ein wenig über die Bilder, die Sie für uns entwickelt haben. Auf welche Vorstellungen von Gemeinschaft haben Sie sich dabei berufen? Bolongaro: Ich habe mich auf die wesentlichen Zutaten für Gemeinschaftsbildung und gute kollektive Organisation konzentriert: ein gemeinsames Ziel, Bewusstseinsbildung, Einheit in der Vielfalt, interkulturelle und generationenübergreifende Solidarität, das Bewusstsein für unseren historischen und politischen Kontext. Außerdem der gemeinschaftliche Gebrauch von Räumen, das Teilen von öffentlichen und privaten Orten, verbunden mit Zeit zum Nachdenken, Lernen und Verbinden. Das waren die zentralen Themen, die mir vorschwebten. FAQ: Entstanden sind Bilder, die gleichzeitig eine Ernsthaftigkeit und eine Leichtigkeit ausstrahlen. Was war der Schlüssel dazu? Bolongaro: Zunächst war es eine Herausforderung, die vorhin genannten theoretischen Konzepte in inszenierten Bildern darzustellen, ohne in klischeehafte Illustrationen zu verfallen. Dass es trotzdem funktioniert hat, hängt auch mit den Schildern meines Freundes und Künstlerkollegen Ben Cain zusammen. Es sind einfache Botschaften des Zusammenlebens, etwa: WIR MACHEN DINGE ZUSAMMEN. Die Schilder sind nicht belehrend oder allzu deklarativ, sondern hinterfragen Ideale von Bürgerschaft auf eine poetische und dialogische Weise. FAQ: Hatten Sie noch andere Referenzen für die Bilder in diesem Heft? Bolongaro: Ich habe mich an meine Anfänge als Sozialarbeiter erinnert. In dem Büro, das wir für klinische Supervisionen genutzt haben, hing ein Bruegel-Druck, der sich tief in mein Unterbewusstsein eingebrannt hat. In Bruegels Werk ist die Dunkelheit, der Feudalismus, nie weit entfernt, aber dennoch zeigt es eine Freude der Bauern am gemeinsamen Raum, an kollektiver Arbeit und Spiel.