In der Nationalgalerie Zachęta eröffnet Andrea Fraser ihre Retrospektive

F.A.Z.-Archiv E-Paper F.A.Z. Produkte F.A.Z.-Portal In der Nationalgalerie Zachęta in Warschau zeigt Andrea Fraser ihre Retrospektive. Durch Polens Kunstszene geht ein „Wind of Change“. Du weißt schon, warum ich hier bin, oder?“, fragt Andrea Fraser. Es klingt doppeldeutig. Denn hier ist Warschau, und nach Warschau ist Fraser gekommen, weil sie in zwei Tagen ihre Retrospektive „Art must hang“ in der polnischen Nationalgalerie Zachęta eröffnen wird. Aber diese Antwort scheint der Künstlerin, die seit den 1980ern mit ihren Performances – Grotesken aus Eröffnungsreden, Museumsführungen und eine Skandalnacht mit Sammler im Hotel – ein ganzes Genre, die institutionskritische Kunst, begründet hat – nicht zu genügen. Aus einer mitgebrachten Thermoskanne trinkt sie Tee und schaut drängelnd unter ihren Brillengläsern hervor. Also, warum die Ausstellung in Warschau? „Na, die alte Regierung ist weg“, lautet ihre Antwort. „Und mit der neuen Regierung kam eine neue Direktorin in die Zachęta. Sie musste eine große Lücke füllen.“ Hinterlassen hat diese Lücke die Kulturpolitik der rechten PiS-Regierung. Diese verwandelte Polen zunehmend in eine Autokratie, seit Dezember 2023 aber regiert wieder Ministerpräsident Tusk von der liberalen Partei. Und Hanna Wróblewska, die langjährige Direktorin der Zachęta, ist seit Mai 2024 Polens neue Kulturministerin. Ein Signal an die erleichterte Kunstszene vor Ort, das auch bei Andrea Fraser in New York angekommen ist. „Nur drei Monate hatten wir Zeit, die Ausstellung zu planen“, sagt sie. Möglich sei das gewesen, weil Warschau nach Shows im Museum of Modern Art in New York und dem Centre Pompidou in Paris bereits ihre sechste Retrospektive ist. Braucht sie Warschau noch? „Ich denke zurzeit viel über Faschismus nach“, sagt Andrea Fraser, während sie in einem Thai-Restaurant in ihrem Curry herumstochert. Dann hustet sie in ihren Ärmel – seit Trumps Amtsantritt sei sie krank. Kein seltenes Phänomen, möchte man sagen, scheinen doch die meisten amerikanischen Künstler mit Trumps Einzug ins Oval Office ihre Stimme verloren zu haben. Auch die, die normalerweise bei Biennalen in New York oder Venedig unüberhörbar Rassismus, weiße Vorherrschaft oder gleich den Kapitalismus als Ganzes anprangern. Fraser jedenfalls, so sagt sie, arbeite hinter verschlossener Tür an einem großen Essay über den ästhetischen Geschmack der Rechten – genau genommen tue sie das schon seit Trumps erster Amtszeit. Ein paar sozialistische Planstraßen weiter steht das Museum für Moderne Kunst. Erst im Oktober 2024 wurde der schlichte weiße Neubau des New Yorker Architektenbüros Thomas Phifer & Partner eingeweiht. Drinnen präsentiert sich auf drei Stockwerken die Sammlungsschau. Unterschiedslos stehen dort internationale Stars wie Isa Genzken, Sarah Lucas oder Miriam Cahn neben prominenten Namen der polnischen Gegenwartskunst: Artur Żmijewski, Wilhelm Sasnal oder Aneta Grzeszykowska. Immer wieder gelangt man im Rundgang durchs Museum in die sogenannten „City Rooms“, isolierte Kammern mit heller Holzvertäfelung und gigantischen Fenstern. Der Blick wandert über Warschau, fällt auf das Wahrzeichen vergangener Zeiten, den Kulturpalast – ein Geschenk Stalins – und damit auf die Stadt und ihre Geschichte. Die Programmatik der Architektur geht auf. Eindrücke aus der Sammlung legen sich über die Stadtlandschaft, das Museum öffnet sich. In einem dieser „City Rooms“ wird die kulturpolitische Vision einer neuen Kunstmetropole Warschau ganz greifbar. Über Lautsprecher hören wir eine bekannte, aber unheimlich schief gepfiffene Melodie. Eine Schrifttafel neben dem großen Fenster bestätigt den Verdacht: „Wind of Change“. Der Siegeszug des liberalen Westens als Soundtrack, ursprünglich gesungen von den Scorpions, hier in verstimmter Neuinterpretation des Künstlers Nikolay Karabinovych aus dem kriegszerstörten Odessa. Joanna Mytkowska, seit 2007 Gründungsdirektorin des Museums, fasst diese Vision so zusammen: „Wir müssen uns selbst definieren – wo wir stehen wollen in der globalen Kunstszene.“ Dieses Wir besteht für sie aus polnischen, ukrainischen, belarussischen, aber auch georgischen Künstlern. Im Herbst zeigt sie beispielsweise die „Kyiv Biennale“, die davor schon in Berlin zu sehen war. Mytkowska sagt, sie selbst komme von „experimentellen und radikalen Formen der Kunst“. Sie kuratierte Ausstellungen im Centre Pompidou, war Teil der Findungskommission der documenta 14 und baute schon in den 1990ern als Mitgründerin der Foksal Gallery Foundation, hier in Warschau, ein weltumspannendes Netzwerk auf. Das dürfte für sie auch jetzt von Vorteil sein, wenn sie, wie geplant, dem Publikum vor Ort die internationale Gegenwartskunst näherbringen will. Das neue Museum war zwar von Anfang an als Anziehungspunkt der internationalen Kunstwelt konzipiert worden, als Symbol der europäischen Integration Polens – unter dem rechten Kulturminister Piotr Gliński aber zog sich der Staat aus der Finanzierung zurück. Moderne Kunst sei kein Teil der polnischen Nationalkultur, lautete die Begründung damals. Ein Paradefall für Andrea Frasers Suche nach dem Geschmack der Rechten. Und auch in der Zachęta spricht Kuratorin Maria Brewińska von „Normalisierung“. Ihren ehemaligen Chef, dem von der PiS installierten Kitschmaler Janusz Janowski, hatte Kulturministerin Wróblewska als erste Amtshandlung kurz vor Weihnachten 2023 entlassen. „Kunst! Kunst! Wir machen wieder Kunst!“, jubelt Brewińska noch immer und drückt ihre Fäuste fest zusammen. Hinter ihr rennt Andrea Fraser von einer Baustelle zur nächsten, für den Aufbau der Schau bleibt nur noch ein Tag. Sie trägt Mundschutz, schließlich möchte sie niemanden mit ihrer New Yorker Krankheit anstecken. Trotzdem quietscht sie resolut auf Skechers-Sohlen und mit geschultertem Turnbeutel über den Parkettboden des klassizistischen Prunkbaus. In einer Stunde nehme sie noch einen Podcast mit dem hausinternen Nachwuchs auf, erzählt Fraser. Es soll um ihre Kunstmarktkritik gehen – und um die Initiative W.A.G.E, mit der sie seit Jahren um Tariflöhne für Künstler kämpft. Der Aufbau hier in der Zachęta scheint der Institutionskritikerin aus New York ihr Lebensgefühl zurückgegeben zu haben. Offenbar kann auch Andrea Fraser in Warschau endlich wieder aufatmen. Den Warschauer Galeristen ging es schon vor dem Ende der rechten Regierung besser. Von ihnen hört man unisono: Der Kunstmarkt in Polen boome bereits seit der Covid-19-Pandemie. Diese habe viele vermögende Polen zu Kunstsammlern gemacht. Das locke langsam auch Galeristen aus dem Ausland an, sagt Łukasz Gorczyca, der in einer ehemaligen Silberschmiede die Galerie Raster betreibt. Zeitgleich zu Frasers Eröffnung veranstalte die Paris Photo, immerhin die weltweit bedeutendste Messe für Fotografie, einen Cocktailempfang für polnische Sammler in einem Warschauer Hotel. Und was hält der Galerist von der neuen Kulturpolitik? „Ironischerweise haben die Galerien davon profitiert, dass die Rechtspopulisten die Institutionen zerlegt haben.“ Das wirklich kunstinteressierte Publikum, meint er, habe die Propagandashows gemieden und sei stattdessen in die Galerien geströmt. Trotzdem zählt Gorczyca, wie viele Galeristen, auf die neue kulturpolitische Vision – auf Internationalisierung und künstlerisch anspruchsvolle Programme. Teil dieser neuen Aufgabe aber müsse sein, nach außen zu tragen, wofür Warschau im geopolitischen Spannungsfeld Europa gerade stehe: für Neues im Alten, für den Auftrieb der postsozialistischen Demokratien. Dann schaut Gorczyca gelassen aus dem Fenster, durch ein schwarzes Schablonenbild des Künstlerkollektivs Slavs and Tatars. „Postsowjetische Botschafter“ nennt er die in Berlin lebenden Künstler, die er auch als Galerist vertritt. Sein Blick geht durch die Umrisse eines Vogels, der abhebt, zu fliegen. „Das ist Simorgh, ein Fabelwesen“, sagt er. „Für die Künstler eine Alternative zum imperialistischen Symbol des Weißkopfadlers, ob in Russland oder jetzt in den USA.“ Ob Warschaus Kunstszene bei dieser Aussicht noch Verstärkung aus New York braucht? Eine Antwort findet sich in der Zachęta, wo Frasers Ausstellung in zwei Stunden eröffnen wird. Im rechten Flügel der Nationalgalerie gleichen Frasers Werke aus den Jahren 1984–2002, ihr künstlerisches Erbe, einem lebhaften Manifest. Ihre stilbildenden Performances, die in Videodokumentationen über surrende Röhrenfernseher und Splitscreens laufen, sind noch immer aktuell. Interventionen, wie „Reporting from São Paulo, I’m from the United States“ von 1998, zeigen, dass sich die Gegenstände von Frasers Kritik kaum gewandelt haben: Mit fernsehfreundlichem Lächeln performt die Künstlerin als TV-Moderatorin, bringt mit ein paar arglosen Fragen die postkoloniale Pose der 24. Kunstbiennale in São Paulo zum Einsturz – stellt das neokoloniale Denken dahinter aus. Im linken Galerieflügel wird dieser Coup noch gegenwärtiger. „This meeting is being recorded“ von 2021 zeigt eine eskalierende Gruppensitzung rassismuskritischer weißer Frauen – jede Einzelne von ihnen spielt Fraser mit brillanter Subtilität. In die Kritik gerät hier ein Milieu, das man ohne Bosheit als eines bezeichnen kann, das im Westen die vergangenen Dekaden den kulturpolitischen Ton angegeben hat: ein liberales, ein linkes Milieu. Eines, das in den USA gerade aggressiv zurückgedrängt wird, während es hier in Warschau seine Rückkehr feiert. Und allein aus diesem Grund, möchte man jedem zurufen, braucht Warschau Andrea Fraser – und Andrea Fraser Warschau. Denn womit ihre Kunst auch hier in der Zachęta 2025 noch überzeugt, ist die Ernsthaftigkeit der Kritik, die, oft verpackt im smarten Witz, dort ansetzt, wo die Kultur vor lauter Aufschwung, Wohlwollen und liberalem Gemeinsinn keinen Spaß mehr versteht: bei Besitz, Status und Macht. Für Warschaus „Wind of Change“ kann das nur bedeuten, die schiefen Töne zu halten. Den Simorgh fliegen zu lassen, ohne in der gleichen Selbstgefälligkeit zu erstarren, die Fraser der westlichen Kulturelite seit vier Jahrzehnten zur Last legt. Und Andrea Fraser selbst? Sie scheint pünktlich zur Eröffnung wieder genesen – zumindest vorerst. Unter dem Mundschutz treten entspannte Gesichtszüge hervor, ihre Werke haben das richtige Publikum zur richtigen Zeit gefunden. Hat auch die Künstlerin etwas gefunden? Vielleicht den Antrieb, weiterzumachen. In New York wartet schließlich ein Essay auf sie – und eine Regierung, die nicht nur der Kunst die Luft zum Atmen raubt. Schlagworte: Krisen, was für Krisen? Auf der Kunstmesse Art Basel in Hongkong strahlen die Galeristen Optimismus aus, und Sammler können sich an Waren mit Glamourfaktor erfreuen. Naomi Beckwith, designierte künstlerische Leiterin der nächsten Documenta, stellt kein Konzept vor, sondern ihren Lebenslauf und ihre Arbeitsbiographie. Was auch Schlüsse zulässt. Arcimboldo, Bassano und Bruegel in Wien, zahlreiche Rollen der Mutter in Düsseldorf und Polaroids von Helmut Newton in Berlin. Der kuratierte Ausstellungskalender des F.A.Z.-Feuilletons.